Warum ist der Gedanke des kraftlosen Wing Tsun/Escrima so attraktiv? Warum verfallen deshalb viele in das Mißverständnis zu einem drucklosen Wing Tsun/Escrima?
Die berühmte Situation “David gegen Goliath” ist eigentlich die Kernstruktur einer jeden logischen Kampfkunst? Wie kommt dies?
Jeder Mensch wird verstehen, daß wenn er vor einem potentiellen Gewalttäter steht, der ihn selbst “visuell körperlich” überschattet, daß er eigentlich auf verlorenem Posten steht. Die Konsequenz dieser visuellen Wahrnehmung ist, daß man sich – analog wie im Tierreich – in eine Starre begibt, die einen aber handlungsunfähig werden läßt. Diese Starre bezieht sich auf die psychische sowie auf die physische Konstellation. Dies bedeutet, daß die Psyche als erstes in Mitleidenschaft gezogen wird, was sofort in eine körperliche Handlungsun-
fähigkeit mündet. Eine weitere Analogie aus dem Tierreich wäre, daß zum Beispiel ein Jäger wie der Tiger kleinere Wildtiere jagt, und größere nur im Rudel. Es gibt aber keine Erfahrungsberichte, daß ein Tiger alleine versucht hat, einen Elefanten zu erlegen.
Wenn man sich also einer solchen Situation ausgesetzt fühlt, dann weiß man auch, daß die vorhandenen körperlichen Mittel und Kräfte nur bedingt mithalten können. Der übermächtige Aggressor hat noch weitere Mittel zur Verfügung. Daher ist es nur allzu logisch, die vorhandenen weiteren Mittel des Aggressors durch geschickte Handhabung auszugleichen oder noch besser, fast gegen null zu bringen.
Das einzig probate Mittel lautet in diesem Fall: Technik. Technik bedeutet, durch den Einsatz nur vorhandener körperlicher Ressourcen einen physisch überlegeneren Aggressor handlungsunfähig werden zu lassen, wenn es die Situation so gebietet.
Wie muß nun diese “Technik” strukturiert sein?
- Es darf für diese Technik kein Muskelkrafttraining zur Kraftsteigerung notwendig sein, da dies im steigenden Alter wieder nachläßt und das Verlassen hierauf somit ein Risikofaktor wäre
- Es darf für diese Technik kein Muskelkrafttraining zur Kraftsteigerung notwendig sein, da wie in der oben beschriebenen “David-gegen-Goliath-Stuation” der Aggressor über ein noch höheres Kraftpotential verfügt
- Diese Technik muß eine innere Stabilität aufbauen
- Diese Technik muß es erlauben, das volle oder teilweise Kraftpotential des Aggressors für sich und gegen ihn zu nutzen
- Diese Technik muß es erlauben, zusätzlich zum Ausnutzen des gegnerischen Kraftpotentials sein eigenes Potential hinzuzufügen
Beim Betrachten der Kraftverhältnisse fällt auf, das es also das hohe Ziel ist, keine eigene “Überkraft” aufzubauen und einzusetzen, da diese in keinem Falle ausreichend wäre. Also sollte das Ziel verfolgt werden, die vorhandenen Kraftressourcen so optimal zu nutzen, das man durch geeignete Bewegungen die “Überkraft” des Aggressors gegen “null” bringen kann.
Dies bedeutet, das die “Kraftlosigkeit” einer Technik das hehre Ziel darstellt. Nun wird aber in der Praxis der Begriff der Kraftlosigkeit sehr häufig als “Drucklosigkeit” interpretiert. Wie kommt dies und was hat dies für Auswirkungen?
Mit Kraftlosigkeit ist die Fähigkeit gemeint, mit dem vorhandenen Muskelpotential ein Volumen von dynamischen Bewegungen zu verursachen, die zu einer hohen Bewegungsenergie führen. Dies ist ohne weiteres möglich, muß aber lange und ausdauernd trainiert werden. Was geschieht aber nun, wenn der entsprechend beschleunigte Körperteil auf einen Widerstand trifft? Nun, dann entsteht ein Druckverhältnis, daß es zu analysieren und zu nutzen gilt.
Und hier setzen viele Fehlinterpretationen ein: Kraftlosigkeit wird demonstrativ visuell als eine Form von Drucklosigkeit dargestellt, um so die sog. “Weichheit” einer Technik zu präsentieren. Was passiert aber wenn zwei Körper, die dynamisch aufeinander zu beschleunigt wurden und zusammenprallen, wird einer der beiden Körper auf einmal drucklos? Wahrscheinlich eher nicht, denn dies würde dem anderen die Türe zum weiteren Eindringen öffnen.
Stellen Sie sich vor, zwei Stiere rennen aufeinander zu. Beide sind hoch beschleunigt. Wenn nun einer der beiden drucklos werden will, dann muß er logischerweise schon vorher planen, den Kontakt einigermaßen zu vermeiden, sich also zurück zu ziehen oder sich seitwärts zu bewegen. Nun wird aber der andere mit Erkennen der Taktik seine Linie nicht einfach weiter verfolgen, sondern er wird sich sofort neu ausrichten, solange bis der Kontakt hergestellt wurde. Und wenn dann die Körper aufeinander prallen, ist Druck vorhanden. Dies bedeutet, daß eine geplante Drucklosigkeit nichts anderes darstellt, als ein versuchtes Vermeiden von Kontakt. Ohne Kontakt kann aber kein Kampf stattfinden, denn selbst ein Treffer ist ein Druckverhältnis! Haben Sie schon mal von drucklosen Treffern gehört oder diese gar erlebt?
Diese Fehlinterpretation des Begriffes “drucklos” kommt aus einer sehr oft visuell “weich” dargestellten Technikform. Man erhält einen Fauststoß und nimmt ihn “weich” auf – optisch sieht dies aus, als wenn man seine Faust in eine extrem nachgiebige Gummiwand schlägt. Dies ist auch der korrekte Grundgedanke, wird aber sehr oft in einer übersteigerten Form präsentiert. Denn kein realistischer Angreifer wird so lange warten, bis man seinen Angriffsdruck neutralisiert hat, sondern er versucht selbst diesen Angriffsdruck beizubehalten oder ihn gar noch zu erhöhen.
Und genau hier kommt eine menschliche Komponente zum Tragen, die eine “übermäßige Weichheit” so beliebt macht – das Vermeiden eines konstanten Bedrohungsgefühls. Konstanter Druck bedeutet konstante Bedrohung – für den einen wie für den anderen. Wenn man aber nun ein Kampfkunstsystem neu erlernt, dann ist dieses Gefühl kein Angenehmes, eher sogar eines, das man am liebsten immer versucht zu vermeiden. Ergo ist man psychologisch empfänglicher für eine “unrealistische und übermäßige Weichheit”. Dabei ist es unter entsprechender pädagogischer Anleitung relativ einfach, sich mit dieser Wahrnehmung ohne Angst vertraut zu machen und sich später selbst als Quelle eines solchen Druckbedrohungspotentiales zu begreifen, um Gewaltsituationen für sich selbst unter Kontrolle zu bringen. Dies gilt auch für die psychologische Komponente in diesem Zusammenhang.