Bei den hier veröffentlichten Texten handelt es sich um die freie Meinungs-
äußerung der Verfasser. Die Inhalte decken sich nicht zwangsläufig mit den Ansichten der IUEWT!


Warum ist Dynamik in der Entwicklung körperlichen Selbstverteidigung wichtig?

Flexibiliät ist eine Eigenschaft, die heutzutage einen hohen Stellenwert besitzt und Bereitschaft zur Flexibilität ist sehr oft eine notwendige Voraussetzung für erfolgreiche Entwicklungen. Der Begriff Flexibilität sagt aus, daß man nicht versucht ‚mit dem Kopf durch die Wand‘ zu brechen, sondern um Widerstände zu kontrollieren diesen gezielt entgegen arbeitet, ohne dabei unnötige Kräfte einsetzen zu müssen. Da die Widerstände nicht immer langsam eintreten – sondern gerade wie im Thema Selbstverteidigung – plötzlich und ohne Vorwarnung, müssen Körper und Geist gemeinsam durch Schulung verändert werden hin zu einem automatisierten flexiblen Verhalten. Damit ist gewährleistet daß wir im Falle der Selbstverteidigung keine Kräfte verschwenden, die auch noch gegen uns gerichtet werden können.

Um Flexibilität erlernen zu können, muß eine mentale und körperliche Strategie die Kraftlosigkeit als oberstes strategisches Ziel verfolgen. Ansonsten muß alles nach der Rasenmähermethode ‚kurz und klein gemäht‘ werden, was aber voraussetzt, daß man selbst die überlegeneren körperlichen Mittel in Form von Masse, Kraft und Reichweite verfügt. Da dieser Umstand aber nicht für jeden Menschen gleichermaßen gilt (ansonsten gäbe es auch im Kampfsportbereich keine Gewichtsklassen!), muß zumindest für die unterlegeneren Menschen eine Methode vorhanden sein, womit sie die überlegenheit des Angreifers komplett ausgleichen können und dadurch das Verhältnis zwischen Risiko und Sicherheit bei 0%/100% – 0% Risiko und 100% Sicherheit einpendeln können!

Da der ungeübte Mensch von Natur aus aber nicht über die entsprechenden körperlichen und mentalen Werkzeuge verfügt, um dieses Verhältnis in einer Gewaltsituation, die nur Bruchteile von Sekunden dauert, herzustellen, ist eine Schulung nötig. Diese Schulung, die von Grund auf solide aufgebaut und ständig weiter geführt werden muss, muss aber auch mit einer gewissen Tiefe oder Nachhaltigkeit durchgeführt werden, um auch in Streßsituationen qualitativ hochwertige automatisierte Prozesse zum Ablauf zu bringen. Hierbei ist es entscheidend, dass der Neuanfänger langsam, strukturiert und kontinuierlich gefördert wird, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich in die jeweilige Materie einarbeiten zu können. Wird er aber ohne Steigerung der ‚Dynamik‘ auf immer dem gleichen Niveau belassen, dann hat er zwar durch Technikvielfalt eine Möglichkeit dennoch auf große Widerstände flexibel zu reagieren, diese Möglichkeit verlangt aber auch gleichzeitig eine schnellere Informationsverarbeitung, welche von Natur aus aber nicht in dem geforderten Maße erfüllt werden kann. Alles unter der Voraussetzung, daß man die Dinge, die man macht, auch hundertprozentig richtig machen will, um so hundertprozentige Sicherheit zu gewährleisten!

Was bedeutet in diesem Zusammenhang Dynamik? Dynamik impliziert maßgeblich einen ansteigenden oder schon erhöhten Geschwindigkeitszustand und das es keinen Halt eines Bewegungsvorganges an irgendeiner Stelle gibt. Dies sind zwei wesentliche Aussagen in Bezug auf Selbstverteidigung. Erstens: dadurch, daß eine Bewegung versucht, eine höhere Geschwindigkeit anzunehmen, erzeugt sie eine höhere Energieübertragung im Falle eines Aufpralls. Zweitens: dadurch, daß es keinen Halt eines Bewegungsvorganges gibt, kann auch eine gegnerische Kraft nicht angreifen, da der Moment des Zusammenstoßes zweier Körpermassen nur kurzzeitig ist und somit einer angreifenden Kraft keine ausreichende Zeit zur Richtungsorientierung der Einwirkung zuläßt. Dies wiederum ist wichtig für jemanden, der lernen will sich zu verteidigen: er darf seine Bewegung nicht stoppen und muß auch immer ein gewisses Geschwindigkeitsniveau einhalten.

Was aber, wenn dann dynamische Bewegungen aufeinanderprallen? Genau hier setzt eine logische und nachhaltige Selbstverteidigungsstrategie an, auch in der Schulung. Zuerst muß verstanden werden, daß das Modell der ständigen (dynamischen) Bewegung verfolgt werden muß – aber mit einer logischen Strategie, die stets Gültigkeit hat (wie eine Universalformel)! Wenn dieses Grundverständnis hergestellt wurde, muß das Verständnis für die Vielfältigkeit des Aufeinanderprallens von verschiedensten Bewegungsmustern erarbeitet und entwickelt werden. Diese Entwicklung beginnt in einer gewissen Form und Endlichkeit und endet in einer formlosen Unendlichkeit der Möglichkeiten. Dabei ist es unerläßlich, diesen Entwicklungsprozeß intelligent, nachhaltig und sicher zu gestalten, da ansonsten der Lehrer bei falscher Anwendung zum Albtraum des Schülers wird, der nur noch Angst verspürt, wenn er vor ihn tritt.

Das Entwicklungsmodell des sogenannten “Treppenlern- oder Kaskadenmodell“ bietet die Möglichkeit für solch eine nachhaltige Entwicklung: erst wenn eine neue Lernstufe durch Anpassung soweit gefestigt wurde, bietet sie eine neue Ausgangsbasis. Damit hat sich dann eine neue “Wohlfühlzone“ beim Lernenden etabliert, welche dann aber wieder durch den Unterweisenden durch entweder neue Bewgungsmuster und/oder höhere Dynamik herausgefordert werden muss – dies aber nur mit einer Herausforderung durch überforderung mit nicht mehr als 30%! Wenn dieses Treppenmodell kontinuierlich fortgeführt wird und man anschließend gedanklich interpoliert (mathematisch einfach die Ermittlungen der gemeinsamen Geraden), dann erhält man eine wirkliche nach oben gerichtete Entwicklung. Wird dieses Modell nicht verfolgt, so erhält man lediglich eine Seitwärtsbewegung auf dem immer gleichen Niveau.

Die Betrachtung gilt stets für beide Ebenen – der mentalen sowie der körperlichen. Das Verhältnis zwischen der Dynamik der Bewegung und dem Empfinden des gefühlten Stressniveaus muß entgegengesetzt verlaufen – mit zunehmender Dynamik der Bewegung muß der gefühlte Stresslevel immer mehr gegen null tendieren – dann hat man eine neue “Wohlfühlzone“ für sich eingenommen. Derjenige, der dies nicht so unterrichtet, gibt dem Schüler keine Möglichkeit für eine Weiterentwicklung. Derjenige, der stets hundertprozentige überforderung ausübt ohne seinen Schülern die Möglichkeit der bewußten Wahrnehmung einzuräumen um darüber eine Reflektionsanalyse einzuleiten, handelt gleichermaßen.

Aber auch auf der Seite der Schüler ist Umdenken nötig: wenn die gefühlte Selbstwahrnehmung keinerlei dynamisches Arbeiten akzeptiert mit der Begründung das man nicht ständig durch kontrollierten Kontakt berührt (‚verprügelt‘) werden möchte, dann verlangt er von seinem Lehrer eine Unterrichtsarbeit in Sachen Selbstverteidigung ohne jede Intention – gleichbedeutend ohne Dynamik. Welcher Angreifer bedroht uns ohne die Intention/die Absicht uns treffen? Welcher Angreifer greift undynamisch (langsam) an?

Text: Marcus Schüssler